Wenn ich mich so richtig auf eine Szene freue, wenn ich genau weiß, was passieren soll, wenn mir das Kopfkino in Dolbysurround und HD den Himmel auf Erden zeigt – genau dann haste ich durch die Szene hindurch, bin fertig, bevor sie richtig angefangen hat und komplett unzufrieden mit mir selbst.
Was eine Lieblingsszene ist? Naja, eben genau die, auf die du dich schon die ganze Zeit freust, dass du sie bald schreiben darfst ^^
Wieso?
Die Antwort ist ganz einfach: Ich weiß ganz genau, was ich sagen möchte, ich weiß ganz genau was passiert und im Endeffekt schreib ich deshalb einen Satz, wo es sicher 10 sein müssten, ganz einfach weil die Autovervollständigung meines Hirns auf Hochtouren läuft.
Was tun?
Ergänzen. Dabei achte ich nicht darauf, ob ich zu viel hinschreibe. Wenn ich versuche eine solche Szene zu retten, dann gibt es im ersten (bzw. eigentlich ja dem zweiten) Durchlauf kein „zu viel„.
Was durch das Durchrasen passiert ist, ist dasselbe, wie wenn ein Künstler mit einem Presslufthammer an einen Marmorblock herangeht, weil sein Geist schneller denkt, als er mit der Hand meißeln kann. Am Ende ist zu viel weggeschnitten und aus den winzigen Überresten, kann nicht einmal der geübteste Zuschauer erkennen, was man erschaffen wollte und egal wie viel Geduld und Hingabe der Künstler noch aufbringt, er kann einfach keinen Goliath mehr aus den kläglichen Überresten schaffen. Dasselbe gilt auch für eine „zu schnell“ geschriebene Szene.
Machst du es aber andersherum, erzeugst du zu viel Text, dann kannst du nachher immer noch streichen.
Als Schriftsteller haben wir den enormen Vorteil, dass wir uns den Marmor wieder neu erschaffen können, auch nachdem wir beim ersten Mal vielleicht zu viel „weggemeißelt“ haben. Und in der dritten Runde können wir ihn genauso leicht wieder entfernen.
Deshalb ist es, bei deinem Versuch eine Lieblingsszene zu retten, erst einmal unwichtig, ob du Nichtigkeiten aufschreibst. Wichtig ist, dass du ein vollständiges Bild erschaffst. Wenn es an den Rändern etwas über die Leinwand hinausragt, kannst du das nachher immer noch abschneiden.
1. Orte und Aktionen
Das ist wahrscheinlich der Punkt, an dem du am wenigsten ergänzen musst. Trotzdem solltest du dir die Szene noch einmal genau ansehen. Versuch dich vom Kopfkino zu lösen, das höchstwahrscheinlich immer noch in deinem Hirn herumgeistert.
Statt dessen, lies die Sätze und versuch wirklich nur das zu lesen, was da steht. Gelegentlich stellt sich dabei heraus, dass bei manchen Personen gar nicht klar ist, wo im Raum sie sich gerade befinden, oder was sie tun. Also ergänze diese Fakten, zeichne ein vollständiges Bild von der Situation, damit der Leser auch das sehen kann, was du dir vorstellst.
2. Logik
Wenn dein Charakter etwas in die Hand nimmt, dann geht der Leser normalerweise davon aus, dass er es den ganzen Rest der Szene auch in der Hand behält. Es sei denn, du teilst ihm etwas Gegenteiliges mit. Achte also darauf, dass alle Charaktere ihre Handlungen vollenden. Sie heben etwas auf und sie tun dann auch tatsächlich etwas damit, sie werfen es weg, legen es wieder ab, lesen es …
Es ändert sich weder der Standort einer Person, noch ihre Kleidung, ihre Ausrüstung oder ihr Gesundheitszustand, ohne, dass du es dem Leser mitteilst – zumindest indirekt, indem klar ist, dass dein Protagonist nicht sieht, was passiert.
3. Sinneseindrücke
Außerdem vergesse ich bei solchen Szenen gerne hinzuschreiben, was wirklich wahrgenommen wird. Benutze alle 5 Sinne deines Protagonisten, sehen, riechen, hören, schmecken, fühlen, um deinen Leser ganz in die Welt der Geschichte hineinzusaugen. Zeig ihm alles.
4. Emotionen
Was empfindet dein Charakter? Gerade solche Lieblingsszenen sind meistens, auf die eine oder andere Weise emotional. Entweder ist dein Protagonist besonders verliebt, sauer, ängstlich, verwirrt oder was auch immer. Lass deinen Leser an dieser Emotionswelt teilhaben, lass ihn spüren, was dein Charakter fühlt.
5. Gedanken
Lieblingsszenen sind häufig sehr bedeutungsschwanger. Ist die Szene nicht gerade deshalb so toll, weil A. gerade das und das denkt, während B. eigentlich etwas ganz anderes sagen wollte? Ist es so spannend, weil C. gar nicht merkt, das hinter dem nächsten Busch ein Hinterhalt lauert? Vielleicht ist dein Protagonist auch völlig abgelenkt und fragt sich, wo die Frau – die gerade eine Pistole auf seinen Kopf richtet – eigentlich ihren Lippenstift gekauft hat?
Lass deinen Leser in die Gedankenwelt deines Protagonisten eintauchen und nutze so die Schreibunschärfe zu deinem eigenen Vorteil, um noch mehr Nähe zu erzeugen.
6. Erinnerungen
Manche Dinge geben nur Sinn, wenn sie im Zusammenhang mit dem großen Ganzen betrachtet und ins rechte Licht gerückt werden. Also kann es hilfreich sein, wenn sich dein Charakter an Dinge erinnert, die in der Vergangenheit geschehen sind. Die kann er dann mit der gegenwärtigen Situation in Verbindung bringen.
Zum Einen ist das eine gute Gelegenheit, um „neue“ Vergangenheit zu enthüllen (Sachen, die dein Leser bisher noch nicht wusste), oder um dem Leser bereits Gelesenes wieder ins Gedächtnis zu rufen.
7. Schlussfolgerungen
Egal was passiert, egal was man sieht, hört, riecht oder fühlt, jeder Mensch zieht ständig seine eigenen Schlussfolgerungen. Das ist der Grund, warum es bei einem Unfall und 30 Zeugen immer auch 30 verschiedene Aussagen gibt, was genau passiert ist. Außerdem ist gerade diese Eigenschaft das Geheimnis, warum die Geschichten von Jane Austen absolut lesenswert sind ^^
Lass deinen Leser also daran teilhaben, was dein Charakter für Schlussfolgerungen zieht, was er denkt, warum der andere tut, was er tut.
8. Was würde … dazu sagen?
Angenommen dein Protagonist findet sich in einer peinlichen oder gefährlichen oder sonst irgendwie außergewöhnlichen Situation wieder, dann könnte er darüber nachdenken, was x (seine Mutter, seine Schwester, sein Ehemann, sein Freund) jetzt dazu sagen würde, wenn er ihn so sehen könnte. Eigentlich ist das auch nur ein Blick in seine Gedanken, aber es eröffnet für den Leser einen völlig neuen Blickwinkel.
9. Dialoge
Falls kein Dialog stattfindet, könntest du überlegen, ob er zum allgemeinen Bild der Szene beitragen würde, falls er einfach nur überflüssig ist, dann natürlich weg lassen.
Falls aber ein Dialog stattfindet, überlege dir, ob tatsächlich auch alle wichtigen Fakten ausgetauscht werden.
Stell sicher, dass
- ständig klar ist, wer redet.
- nur Dinge gesagt werden, die der entsprechende Charakter auch wirklich mitteilen würde.
- die Stimmung, sowie Art und Weise des Gesprochenen klar sind.
- die Charaktere auf die Worte, deren Inhalt, Implikation, Art und Weise reagieren.
10. Reifen lassen
Leg deine „zu kurze“ Lieblingsszene für einen Tag zur Seite, falls nötig auch länger. Wenn du sie das nächste Mal zur Hand nimmst, wird es dir viel leichter fallen zu erkennen, was noch fehlen könnte. Versuche direkt während des ersten erneuten Lesens Fehlstücke einzubauen.
11. Zusatztipp: Neuschreiben
Leg das Original der Szene zur Seite (am besten für ein oder zwei Tage, bei Bedarf auch länger) und dann schreib die Szene komplett neu. Es ist fast unmöglich, dass du genau dieselben Worte wieder findest, du wirst andere Aspekte entdecken, neue Sichtweisen, zusätzliche Fakten.
Falls du mit dem Ergebnis zufrieden sein solltest, super. Ansonsten kannst du versuchen, die neue Version mit der Alten zu verbinden und so ein größeres, kompletteres Ganzes zu schaffen.
12. Zusatztipp: Aufgeben
Nun, wenn du meinen Blog schon ein wenig länger verfolgst, dann dürftest du wissen, dass „Aufgeben“ für mich eigentlich keine Option ist. Trotzdem bleibt manchmal vor lauter Voreingenommenheit einfach nichts anderes übrig. Allerdings ist es ausdrücklich nur temporär. Du tust nämlich so, als wäre die Szene fertig und schreibst einfach an deiner Geschichte weiter.
Eventuell hast du das Glück, dass dich zwischendurch ein Geistesblitz ereilt, dann kommst du natürlich sofort zurück. Ansonsten wartest du ganz explizit bis zur ersten Überarbeitung. Erst dann versuchst du – auf dem Hintergrund von all dem, was du seither über deine Charaktere, im Rest der Geschichte erfahren hast – die Szene erneut zu verbessern.
Diskussion
Hast du auch das Problem, dass dir Lieblingsszenen nicht gelingen? Wie oft kommt das vor? Bei welchen Szenentypen im Besonderen? Was unternimmst du dagegen? Welche der oben genannten Tipps hast du schon ausprobiert? Welche helfen dir am besten? Welche würdest du noch ergänzen?
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