Wie schafft man es eigentlich, eine „perfekte“* Szene zu schreiben?
In dieser dreiteiligen Serie [Teil 2|Teil 3] übersetze ich den Artikel „Writing the perfect scene“ von Randy Ingermanson. Er betrachtet die perfekte Szene, und erklärt, wie du sie schreiben kannst, bis ins Detail.
Zusammen mit der Schneeflocken-Methode bildet diese Technik eine perfekte Symbiose für den planenden Schreiber. Für alle Plotlos-Schreiber geht es natürlich auch planlos zum Roman.
*Wirklich „perfekt“ gibt es natürlich nicht, aber „eine Szene die funktionert und die Geschichte vorantreibt“ tut es wohl auch 🙂
[Anm. des Übersetzers: Aufgrund seiner Länge habe ich den Artikel in zwei Stücke aufgeteilt, der dritte Teil enthält eine Zusammenfassung, Stellungnahme und einige Erweiterungen meinerseits. Teil 2 | Teil 3 ]Die perfekte Szene schreiben
von Randy IngermansonFällt es dir schwer, die Magie deiner Szenen zu entfachen? In diesem Artikel werde ich dir zeigen, wie du die „perfekte“ Szene schreiben kannst.
Vielleicht glaubst du, es ist unmöglich, eine perfekte Szene zu schreiben. Wer kann schon jedes Wort perfekt wählen, jeden Gedanken, jeden Satz, jeden Absatz? Was heißt Perfektion überhaupt?
Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Perfektion liegt immer im Auge des Betrachters und Stil ist eine Frage des Geschmacks.
Aber die Struktur von etwas kann man ganz gut verstehen. Vielleicht kannst du keine stilistisch perfekte Szene erschaffen aber du kannst eine perfekt strukturierte Szene schreiben. Und das ist ein Gutteil besser, als eine schlecht strukturierte Szene zu verfassen.
Die zwei Teile der Szenenstruktur
Eine Szene hat zwei Ebenen der Struktur und nur zwei. Das sind:
- Die äußere Struktur der Szene
- Die innere Struktur der Szene
Das mag offensichtlich klingen, aber am Ende dieses Artikels habe ich dich hoffentlich überzeugt, dass das verdammt wichtig ist. Wenn du dann mit großen Mengen Geld nach mir schmeißen möchtest, tu es bitte nicht. Ich hätte viel lieber einen Scheck – mit vielen Nullen.
Ich werde einige Einsichten von Dwight Swain’s Buch „Techniques of the Selling Writer“ (englisch) klauen. Das ist ganz einfach das beste Buch, das jemals zum Thema „Wie schreibt man Fiktion“ verfasst wurde. Wenn du dieses Buch nicht besitzt, schneidest du dir ins eigene Fleisch. Ich gebe dir in diesem Artikel die Highlights, aber das ist kein Ersatz dafür, das Buch selber zu lesen und zu verdauen.
Bevor wir anfangen, müssen wir uns klar machen, wo wir stehen. Woher wissen wir, was Perfektion ist? Die Antwort basiert auf dem Verständnis dafür, was die Motivation deines Leser ist, zu lesen.
Dein Leser liest deine Geschichte, weil du ihn mit einer mächtigen emotionalen Erfahrung versorgst. Wenn du eine Romanze schreibst, musst du in deinem Leser die Illusion erzeugen, dass er sich selber verliebt. Wenn du einen Thriller schreibst, musst du in deinem Leser die Illusion erzeugen, dass er sich selber in tödlicher Gefahr befindet und nur die allerkleinste Chance hat, sein eigenes Leben zu retten (und das der gesamten Menschheit). Wenn du Fantasy schreibst, musst du in deinem Leser die Illusion erzeugen, dass er sich wirklich in einer anderen Welt befindet, wo alles anders ist und wundervoll und magisch. Und so weiter für alle anderen Genres.
Wenn du es nicht schaffst, diese Emotionen in deinem Leser zu erzeugen, dann hast du versagt. Wenn du es aber doch schaffst, diese Emotionen in deinem Leser zu erzeugen, dann hast du gewonnen. Je besser du die gewünschte emotionale Erfahrung in deinem Leser erzeugst, desto besser ist deine Geschichte. Perfektion beim Schreiben kommt, wenn du die bestmögliche emotionale Erfahrung für deinen Leser kreierst.
Die äußere Struktur der Szene
Die äußere Struktur einer Szene ist sehr einfach. Du kannst aus zwei möglichen Strukturen wählen. Dwight Swain nennt die beiden Möglichkeiten „Szenen“ und „Konsequenzen“. Das ist enorm verwirrend, weil beides vom normal Sterblichen als Szene bezeichnet wird. [Anmerkung des Übersetzers: Hier erklärt R.I., dass er den Unterschied durch Groß- und Kleinschreibung hervorheben will, das macht im Deutschen keinen Sinn. Deshalb werde ich im Folgenden, immer wenn Swains Begrifflichkeiten gemeint sind, die englischen Begriffe Scenes und Sequels benutzen. Das deutsche Wort „Szene“ verwende ich, wenn es sich um die gewöhnliche Szene im nicht-Swainschen-Sinne handelt.] Weil du außergewöhnlich brillant und scharfsinnig bist, wird dir das keine Probleme bereiten. Lass mich dir vorab die Hauptpunkte von Scenes und Sequels aufzeigen.
Eine Scene hat folgendes dreiteiliges Muster:
- Ziel
- Konflikt
- Desaster
Eine Sequel hat folgendes dreiteiliges Muster:
- Reaktion
- Dilemma
- Entscheidung
Vielleicht denkst du, diese Muster seien zu schlicht.Vielleicht denkst du, das würde das Schreiben auf „malen nach Zahlen“ reduzieren. Tja, nein. Das reduziert Fiktion auf die Muster, die sich bei Tausenden von Schriftstellern bewährt haben. Es gibt viele andere Muster, die von Leuten benutzt werden. Normalerweise funktionieren sie weniger gut. Es mag sein, dass es andere Muster gibt, die besser funktionieren. Wenn du eins findest, das besser funktioniert, bitte teil es mir mit. Aber für jetzt, lass uns so tun, als hätte Dwight Swain recht. Lass uns so tun, als wären dies die absolut bestmöglichen Muster um Fiktion zu schreiben. Lass uns so tun, als wären dies die Schlüssel um eine perfekte Szene zu schreiben. Lass uns fortfahren und jeden dieser Punkte im Detail betrachten.
Wie wir gesagt haben, die Scene hat drei Teile: Ziel, Konflikt und Desaster. Jeder dieser Teile ist äußerst wichtig. Ich werde jeden dieser Teile definieren und dann erklären, warum jeder entscheidend für die Struktur der Scene ist. Ich nehme an, dass du dir einen Charakter ausgesucht hast, aus dessen Sicht (Point of View) du die Geschichte schreiben möchtest. Im Folgenden werde ich diesen Charakter als deinen POV Charakter bezeichnen. Dein Ziel ist es, deinen POV Charakter die Szene überzeugend erleben zu lassen. Du musst das so wortgewaltig hinbekommen, dass dein Leser die Szene erlebt, als wäre er selber der POV Charakter.
- Ziel: Ein Ziel ist, was der POV Charakter am Anfang der Szene (erreichen) möchte. Das Ziel muss spezifisch sein und klar definierbar. Der Grund, weshalb dein POV Charakter ein Ziel haben muss ist, dass es deinen Charakter in die Initiative zwingt. Dein Charakter wartet nicht passiv darauf, dass das Universum für ihn die Welt rettet. Dein Charakter versucht aktiv zu bekommen, was er möchte, genauso, wie dein Leser das gerne selber tun würde. Es ist ein simpler Fakt, dass jeder Charakter, der irgendetwas verzweifelt möchte, auch ein interessanter Charakter ist. Selbst wenn er nicht nett ist, ist er immer noch interessant. Und dein Leser wird sich mit ihm identifizieren. Das ist es, was du als Schriftsteller willst.
- Konflikt: Der Konflikt ist eine Serie von Hindernissen, die dein Charakter überwinden muss, um sein Ziel zu erreichen. Du musst Konflikt in deiner Scene haben! Wenn dein POV Charakter sein Ziel ohne Konflikt erreicht, dann langweilt sich dein Leser. Dein Leser möchte Anstrengung und Schweiß sehen! Kein Sieg hat einen Wert, wenn man ihn zu leicht erringt. Also lass deinen POV Charakter schwitzen und dein Leser wird diese Anstrengung miterleben.
- Desaster: Ein Desaster ist, wenn dein POV Charakter sein Ziel nicht erreicht. Gib ihm sein Ziel nicht! Gewinnen ist langweilig! Wenn eine Scene mit einem Sieg endet, wird dein Leser keinen Grund haben umzublättern. Wenn die Dinge gut laufen, kann dein Leser auch ins Bett gehen. Nein! Lass etwas Schreckliches passieren. Lass deinen POV Charakter von einem Kliff baumeln [Anm. des Übersetzers: englisches Wortspiel mit dem Begriff „Cliffhanger“] und dein Leser wird umblättern, um zu sehen, was als Nächstes passiert.
Das ist alles! Es gibt buchstäblich nichts weiter, was du über Scenes wissen musst. Jetzt lass uns anschauen, was Sequels sind.
Die Sequel hat drei Teile: Reaktion, Dilemma und Entscheidung. Wieder ist jeder dieser Teile entscheidend für den Erfolg der Sequel. Lass einen Teil davon weg und die Sequel wird nicht funktionieren. Lass mich noch einen wichtigen Punkt hinzufügen. Das Ziel einer Sequel ist es, auf eine Scene zu folgen. Eine Scene endet mit einem Desaster, und du kannst nicht sofort mit einer neuen Scene weitermachen, die mit einem Ziel beginnt. Warum? Wenn du gerade mit einem gravierenden Rückschlag konfrontiert wurdest, kannst du nicht einfach losstürmen und etwas Neues versuchen. Du musst dich erholen. Das ist elementare Psychologie.
- Reaktion: Eine Reaktion ist die emotionale Folge eines Desasters. Wenn etwas Schreckliches passiert, bist du eine Weile niedergeschmettert, aus dem Gleichgewicht, nicht in gutem Zustand. Du kannst nichts dagegen machen. Also zeig deinen POV Charakter, wie seine Eingeweide (sein Innerstes) auf dieses Desaster reagieren. Zeig, wie er leidet. Gib deinem Leser die Gelegenheit mit deinem Charakter mitzuleiden. Vielleicht musst du etwas Zeit vergehen lassen. Das ist keine Zeit für Aktion, es ist eine Zeit für Re-Aktion. Eine Zeit zu jammern und zu weinen. Aber du kannst nicht für immer im Schmerz zerfließen. Wenn Menschen das im wirklichen Leben machen, verlieren sie ihre Freunde. Wenn du das in deiner Geschichte machst, verlierst du deine Leser. Irgendwann muss dein POV Charakter sich wieder einkriegen. Eine Bestandsaufnahme machen. Nach Möglichkeiten Ausschau halten. Und das Problem ist, dass es keine gibt.
- Dilemma: Ein Dilemma ist eine Situation ohne gute Möglichkeiten. Wenn dein Desaster ein wirkliches Desaster wäre, dann gäbe es überhaupt keine gute Wahl. Dein POV Charakter muss in einem richtigen Dilemma stecken. Das gibt deinem Leser die Chance, sich mit ihm zu sorgen – das ist gut. Dein Leser muss sich fragen, was überhaupt als Nächstes geschehen kann. Lass deinen POV Charakter alle Möglichkeiten durchgehen. Lass ihn die Dinge ordnen. Lass ihn schließlich zu der am wenigsten schlechten Lösung kommen …
- Entscheidung: Eine Entscheidung ist ein Vorgang bei dem man eine Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten trifft. Das ist wichtig, weil es deinen POV Charakter wieder aktiv werden lässt. Menschen, die niemals Entscheidungen treffen, sind langweilige Menschen. Sie warten herum, bis irgendjemand anders entscheidet. Und niemand möchte über so jemanden lesen. Also lass deinen Charakter entscheiden und lass es eine gute Entscheidung sein. Lass es eine Entscheidung sein, die dein Leser respektieren kann. Lass sie riskant sein, aber lass sie eine Chance haben zu funktionieren. Mach das und dein Leser wird umblättern müssen, weil dein Charakter jetzt ein neues Ziel hat.
Und nun haben wir einen vollen Kreis geschlossen. Du bist von einer Scene zu einer Sequel gekommen und zurück zu einem Ziel für eine neue Scene. Das ist der Grund, warum das Scene-Sequel Muster so mächtig ist. Eine Scene führt ganz natürlich zu einer Sequel, die ganz natürlich zu einer neuen Scene führt. Und immer so weiter. An einem Punkt wirst du den Zyklus beenden. Du wirst deinem POV Charakter entweder den ultimativen Sieg oder die ultimative Niederlage geben und das wird das Ende deines Buches sein. Aber bis du dahin kommst, wird dich das alternierende Muster von Scene und Sequel immer weiterführen. Und dein Leser wird dich verfluchen, wenn er bemerkt, dass er die ganze verdammte Nacht damit zugebracht hat dein Buch zu lesen, weil er das Ding einfach nicht weglegen konnte.
Das ist Perfektion.
Wie auch immer, das ist nur die eine Hälfte der Schlacht. Ich habe dir gesagt, wie du Scenes und Sequels in ihrer äußeren Struktur designen kannst. Aber du musst sie immer noch schreiben.
Wie das geht, erfährst du im zweiten Teil.
Diskussion
Was hältst du bisher von dem Artikel? Wie findest du die Unterteilung in Sequel und Scene? Denkst du diese äußere Struktur kann funktionieren? Ist diese Art zu Schreiben etwas für dich? Wirst du weiter lesen und warum (nicht)?
Hier geht es weiter: Teil 2 | Teil 3
Kim Kestner meint
Als ich vor acht Jahren mit dem Romanschreiben begann, wusste ich Ende meines ersten Buches trotzdem nicht, was ein Plot ist und die Heldenreise wäre für mich ein Reiseführer über Athen gewesen. Also begann ich alles rund ums Schreiben zu lesen, was ich in die Finger bekam. Zum Glück, denn ab da wurden meine Bücher tatsächlich veröffentlicht. Gerade schreibe ich an meinem siebten Buch und lerne immer noch und mit ungebrochener Leidenschaft dazu.
Obwohl es mir – wie gesagt – nicht an Schreibratgebern mangelt, habe ich erst durch diesen Beitrag wirklich begriffen, was es mit Scene und Sequel auf sich hat. Die gekürzte Übersetzung und die Anmerkungen der Übersetzerin haben mir die Augen geöffnet. VIELEN DANK DAFÜR!
Kim Kestner
Jacky meint
Hi Kim,
freut mich von Herzen, dass dir meine Übersetzung geholfen hat. Dieser Artikel von Randy Ingermanson hat mir damals auch echt die Augen geöffnet.
Also, sehr gern geschehen und weiterhin viel Erfolg mit deinen Veröffentlichungen 🙂
Ganz ilebe Grüße
Jacky
Henning meint
Hallo Jacky,
herzlichen Dank für diesen Artikel.
Ich habe leider ein grundlegendes Verständnisproblem und ich hoffe, ich kann es verständlich erklären: Sind Scene und Sequel Synonyme für eine „Szene“ als Strukturelement eines Textes? Was ich meine ist folgendes: 1. Szene des Kapitels => Scene, 2. Szene des Kapitels => Sequel usw. Oder bilden Scene + Sequel eine Szene eines Kapitels? Oder ist es jedem selbst überlassen, wie er das hält?
Herzlichen Dank!
Jacky meint
Hi Henning,
freut mich, dass dir der Artikel gefällt.
Genau so 😉
Liebe Grüße
Jacky
Micha meint
Hallo Jacky,
danke für deinen Artikel. Ich habe eine Frage zur Abfolge. Du erklärst, dass auf eine scene immer ein sequel folgt und umgekehrt, mache ich es meinem Protagonisten nicht zu leicht und dem Leser auch wenn jedes Problem direkt gelöst wird?
Ich würde eher eine Reihe von scenes aufbauen, so dass der Konflikt größer und unüberwindbarer erscheint, bevor ich die sequels einwerfen würde.
Danke vorab.
Gruß, Micha.
Jacky meint
Hi Micha,
freut mich, dass dir der Artikel gefällt 🙂
Die Reihenfolge ist schon Absicht, es wird nicht langweilig, weil es normalerweise mehrere Ebenen in der Geschichte gibt, das heißt, mehrere Handlungsstränge die verfolgt werden.
Es sollte zu jedem Zeitpunkt (mindestens) einen Konflikt geben, der offen ist und der nicht sofort in der nächsten Scene/Sequel gelöst wird.
In diesem Artikel wird aber die Geschichte „nur“ auf Szenen-Ebene betrachtet, deshalb kann das große Ganze nicht abgebildet werden.
Liebe Grüße
Jacky
Jessi meint
Hallo Jacky,
vielen Dank für diese Erklärung. 🙂
Wenn ich das richtig verstehe, ist nicht jedes Kapitel zwingend so aufgebaut, sondern es kann auch sein, dass eine der Szene-Sequel-Kombis sich über mehrere Kapitel zieht und sie ineinander verschachtelt sein können. Richtig?
Zum Beispiel: Das große Ganze kann eine Szene-Sequel- Kombi sein, die sich von Anfang bis Ende durchzieht und dann kann/sollte es weitere Szene/Sequel geben, von denen immer mindestens eine offen sein sollte?
Jacky meint
Genau so 😉
Mia meint
Hallo Jacky,
Ich bin dabei eine Drehbuchszene zu schreiben, aber hätte gar nicht gewusst wie ich anfangen soll und auf was zu achten ist. Dein Artikel hat mir schon extrem geholfen und ich werde noch die anderen lesen. Vielen Dank für deine Hilfe!
Liebe Grüße, Mia
LeonTee meint
Danke, genau das habe ich gebraucht