Ob auktorial, personal oder Ich-Erzählung, die Auswahl ist groß, aber welches ist nun die richtige Perspektive?
Alle und keine.
Die Antwort lautet: eigentlich gar keine und doch irgendwie alle. Es kommt darauf an, was du selbst am liebsten magst.
Diese Erkenntnis allein scheint nicht sehr zufriedenstellend, deshalb möchte ich dir zeigen, wofür ich mich entschieden habe und warum.
Anstoß
Nachdem ich Harry Potter gelesen hatte und mir während des Lesens oft wünschte, doch mal mit Ron eine Runde durch Hogwarts zu drehen oder zusammen mit Hermine in der Bücherei zu sitzen, stand für mich fest, dass es mir nicht genügte, nur mit einer Person das Geschehen zu erleben. Ich wollte MEHR, und das in vielerlei Hinsicht.
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Durch wechselnde Perspektiven ist es möglich, mehrere Charaktere zu begleiten und zwischen ihnen zu switchen (also wechseln). Hier habe ich mich für die Er/Sie- Erzählweise entschieden, wobei der Charakter der Person, aus deren Sicht ich schreibe, meinen Schreibstil verändert.
Beispiel: Frank ist ehrgeizig, ichbezogen und flucht gerne. Er hasst Susi Müller, eine seiner Arbeitskolleginnen.
In schriftlicher Form könnte das dann etwa so aussehen:
Mist! Franks Hände verkrampften sich.
Diese blöde Kuh hatte ihm doch tatsächlich den Job direkt vor der Nase weggeschnappt. Ausgerechnet die! Mit donnernden Schritten stapfte er zurück zu seinem Bürosessel, ließ sich schnaubend hineinfallen und begann darüber zu sinnieren, wie er es ihr bei nächster Gelegenheit heimzahlen sollte. Susi Müller, dachte er, das wirst du noch bereuen!
Aus der Sicht der stillen, sensiblen Linda hätte diese Situation eine völlig andere Wendung genommen. Sie hätte sich vermutlich Gedanken darüber gemacht, ob Susi sie nicht mochte und wenn ja, womit sie Susi wohl verärgert haben könnte.
Wenn du wechselnde Perspektiven verwenden solltest, musst du darauf achten, nicht zu viel zu verraten, obwohl du als Autor sehr wohl mehr weißt.
Zum Beispiel weiß ich, dass Susi in Wahrheit unsterblich in Frank verschossen ist. Da er sie immer nur finster anstarrt, hält er ihre errötenden Wangen eher für ein Schuldeingeständnis, als damit irgendwas Romantisches in Verbindung zu bringen. Es entspricht nämlich nicht seinem Wesen, auf die Gefühle anderer zu achten.
Du musst dir des Temperaments und den Ansichten deiner Person bewusst sein und versuchen, nicht aus der Rolle zu fallen, damit die Personen gut voneinander zu unterscheiden sind und sie beim Leser den richtigen Eindruck hinterlassen.
Und was ist jetzt so toll daran?
1. Glaubhaftigkeit
Wer ständig bei einer Person bleibt, der hat nur eingeschränkt die Möglichkeit, andere Charaktere darzustellen, nämlich in ihrem Verhalten gegenüber der Hauptperson. Mit den wechselnden Perspektiven hast du dagegen die Möglichkeit, auch in eine andere Person zu schlüpfen und zu ergründen weshalb sie sich so verhält und wie sie die Welt wahrnimmt.
Besonders bei einem einschlägigen Gut-/Böse-Schema ist dieses Switchen besonders gut geeignet. Der Bösewicht hat plötzlich auch seine guten Seiten, der Held seine Finsteren. Niemand ist nur gut oder nur böse. Diese Graustufen machen glaubhaft und beugen Stereotypen vor.
2. Abwechslung
Allein als Übung hat dieser Wechsel zwischen den Figuren viel zu bieten. Hier kannst du dich austoben und in die verschiedensten Rollen schlüpfen, ebenso deine Leser.
(Hach, nun kann ich endlich Draco Malfoy im Gemeinschaftsraum der Slytherins erleben, kann Hagrid beim Pflegen magischer Geschöpfe über die Schultern schauen und sehen, was Albus Dumbledore so in seiner Freizeit treibt, egal ob Harry nun dabei ist, oder nicht.)
3. Ein großes Ganzes
Eine Geschichte wirkt vielschichtiger, wenn sie aus der Sicht mehrerer Personen erzählt wird. Sie erlangt mehr Plastizität. Wenn du beispielsweise die Schrecken eines Krieges beschreibst, wirkt das Thema viel komplexer, wenn du ihn aus der sich der Angreifer und der Angegriffenen wiedergibst.
Der Leser erfährt auf diese Weise, dass es Opfer auf beiden Seiten gibt und natürlich erhöht es die Dramatik. Wenn du auch die Gefühle eines jungen Soldaten aufseiten der Angreifer zeigst, der zum Wehrdienst gezwungen wurde und der es kaum erträgt, andere zu töten, ist das viel emotionaler als „nur“ von einer verletzten Frau unter den Angegriffenen zu schreiben.
4. Andere Wege
Nebenplots bieten zudem die Möglichkeit, andere Wege zu gehen und neue Erkenntnisse zu vermitteln, die für den Verlauf der Geschichte noch eine wichtige Rolle spielen können. Diese Erkenntnisse können Verbindungspunkte zwischen den Akteuren schaffen und neue Impulse geben.
Susi trifft an der Kasse im Supermarkt Franks Ehefrau – mit einem anderen Mann.
Daraufhin fasst sie einen folgenschweren Entschluss.
Der Leser sieht, wie sich Personen und ihr Handeln gegenseitig beeinflussen. Es gibt – wie immer – viele Möglichkeiten verschiedene, „kleine“ Lebensgeschichten miteinander zu koordinieren. Du kannst anhand einer Hauptperson den eigentlichen Erzählstrang beobachten und Nebencharaktere mit ihren Geschichten dazwischen einfügen.
(Cliffhanger sind prädestiniert für solche Stellen, foltere deine Leser aber nicht zu oft mit ihnen, sonst könnte er vor Aufregung Seiten überblättern, nur um zu erfahren, wie es weitergeht.)
Genauso gut kannst du aber auch eine beliebige Anzahl an gleichwertigen Figuren erfinden und sie sich in regelmäßigen Abständen abwechseln lassen. Ob vier Freundinnen, ein Liebesdreieck, eine Familie, … Deiner Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.
5. Reibung, Spannung und Konflikte
Dadurch, dass der Leser nun die Motive jeder Person verstehen kann (oder zumindest sollte) , verschwimmen die Ränder von Gut und Böse. Er weiß nicht genau, auf wessen Seite er eigentlich sein soll und das erzeugt Spannung.
Kehren wird zum Beispiel vom Anfang zurück.
Man sieht den ehrgeizigen Geschäftsmann Frank wie er sich mit einem Elektroschocker auf den Weg macht um es Susi heimzuzahlen, dass sie „seine“ Beförderung bekommen hat.
-Switch–
Nun sieht man die aufgeregte Susi, die Frank endlich ihre Gefühle gestehen will. Sie trägt Lippenstift auf.
-Switch–
Frank kommt näher.
-Switch–
Susi legt sich im Geiste die Worte zurecht. Ihr Herz rast. Sie macht sich auf den Weg.
Die beiden begegnen sich auf dem Flur.
Die Abstände zwischen den Beiden werden (nicht nur räumlich) immer kürzer; es wird Spannung erzeugt.
Der Leser weiß, wie gestresst Frank in letzter Zeit war, dass er überarbeitet ist und seit Tagen nicht richtig geschlafen hat, dass er denkt, Susi wäre dafür verantwortlich, dass dauernd wichtige Akten verschwinden und seine letzte Präsentation auf eine unmögliche Uhrzeit verschoben wurde.
Der Leser weiß außerdem, dass Susi von Franks Ehefrau und seinen drei Kindern weiß und bereits eine andere Ehe/Familie durch eine Affaire mit einem Mitarbeiter zerstört hat und dass sie diesen Mann monatelang mit Anrufen und Nachrichten bombardierte. Dass sie schon zweimal wegen Belästigung angezeigt wurde.
Nun muss der Leser hilflos mit ansehen, wie die Begegnung der beiden immer näher rückt. Doch für wen soll er sein? Welchen Ausgang soll er erhoffen?
Das richtige Maß
Natürlich musst du abwägen, bei wie vielen Personen du so vorgehen willst und inwiefern es die Geschichte bereichert. Nicht jede Intrige muss offenkundig gesponnen werde, manche Geheimnisse bleiben lieber bis zu Letzt geheim. In wie weit interessiert schon das kaputte Liebesleben einer Statistin?
Bei zu vielen Personen besteht zudem die Gefahr, dass du den Überblick und das Konzept der Geschichte aus den Augen verlierst. Auch hier gilt es herumzuexperimentieren und Dinge auszuprobieren, bis du deine eigene Mitte gefunden hast.
Die Wahl einer geeigneten Perspektive bestimmt deine ganze Schreibweise, deshalb solltest du ihr schon vor dem Schreiben einige Gedanken widmen. Eine Geschichte aus wechselnden Perspektiven zu verfassen, ist EINE Möglichkeit, die dir ermöglicht dem Leser mehr Informationen zukommen zu lassen. Ob sie die Richtige für dich ist, musst du selbst entscheiden.
Wichtig: Wenn du dich einmal für eine Erzählweise entschieden hast, dann solltest du sie auch innerhalb eines Werkes beibehalten, sonst schafft das nur Verwirrung. Ich für meinen Teil habe mich für wechselnde Perspektiven entschieden und bin höchst zufrieden mit dem Ergebnis.
Diskussion
Welche Vor- und Nachteile siehst du bei einer Geschichte, die aus mehreren Perspektiven beschrieben wird? Welche Perspektive verwendest du selbst? Was hat dich dazu gebracht?
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