Wenn du vom Schreiben Leben möchtest, dann brauchst du Fans, die dir vertrauen und die nicht nur ein Buch von dir lesen, sondern, die alle Bücher von dir förmlich verschlingen. Ach was, das ist wohl immer eins der allerschönsten Gefühle 🙂
Dabei ist die erste Szene ganz besonders wichtig. Aber nicht nur, um den Leser in die aktuelle Geschichte eintauchen zu lassen, sondern vor allem, damit er anschließend auch ein weiteres Buch von dir zur Hand nimmt.
Denn wonach entscheidet ein Leser, ob er dein „nächstes Buch“ liest? Nun, dafür sollte ihm „das erste Buch“ von dir gefallen haben. Die Story muss stimmen, der Spannungsaufbau, das Ende … mit diesen Dingen könnte man ganze Bücher füllen — oder Blogs 😉
Aber eine Sache ist bei dieser Entscheidung ganz besonders wichtig: Vertrauen in dich. Im Folgenden möchte ich beleuchten, warum Vertrauen in dich als Autor so wichtig ist, wie du Vertrauen schaffst, was das mit der ersten Szene zu tun hat, dass das vielleicht langweilig klingt und wie du trotzdem überraschen kannst.
Los geht’s 😉
Warum ist Vertrauen in den Autor so wichtig?
Vertrauen ist die Basis jeder Beziehung.
Du vertraust darauf, dass der Babysitter lieb zu deinen Kindern ist und gut auf sie aufpasst. Und du vertraust darauf dass deine „bessere Hälfte“ genauso viel Ehrlichkeit, Treue und Hingabe in eure Partnerschaft einbringt, wie du. Sonst gäbe es beide Beziehungen nicht.
Und der Leser muss darauf vertrauen können, dass du ihm eine gute Geschichte erzählst, sonst vergisst er dich schneller, als du sagen kannst: „Bob ist mein Onkel.“
Wobei „gut“ natürlich im Auge des Lesers liegt.
Sagen wir, er möchte eine spannende Geschichte lesen, in der er nicht sicher sein kann, dass der Protagonist überlebt. Dann muss er darauf vertrauen, dass du den Protagonisten in einem (für die Geschichte) sinnvollen Augenblick einen glaubwürdigen Tod sterben lässt.
Oder er wünscht sich eine herzergreifende Liebesgeschichte mit Happy End. Dann muss er darauf vertrauen, dass du die beiden Protagonisten am Ende auf eine glaubwürdige und herzergreifende Art und Weise zusammenbringst.
Wenn das nicht der Fall ist, wenn er dir nicht vertraut … tja, dann macht es für ihn wohl wenig Sinn die (nächste) Geschichte überhaupt zu lesen, oder?
Wie schaffe ich Vertrauen?
In dem du gute Geschichten erzählst und:
Indem du deine Versprechen hältst. So einfach ist das. Und einer der wichtigsten Punkte dabei ist eben die erste Szene. Denn …
Die erste Szene ist ein Versprechen an deinen Leser. Sie setzt den Ton für deine gesamte Geschichte, gibt ihm einen Ankerpunkt und erste Hinweise darauf, was ihn erwartet.
Am liebsten hätte ich es auch noch in Capslock und unterstrichen geschrieben. Aber das hab ich nicht gemacht, weil es natürlich (wie immer) auch Ausnahmen gibt. So gibt es Genres, bei denen der Leser überrascht werden möchte. Da kann ein ruhiger, unscheinbarer Anfang mit einer dramatischen/blutigen/alles-auf-den-kopf-stellenden Wendung genau das Richtige sein. Aber auch das ist wieder ein Versprechen an deinen Leser, das du für den Rest des Buchs halten musst.
Denn am Ende der Geschichte sollte dein Leser so kontinuierlich wie möglich das (für ihn) richtige „Lesegefühl“ erlebt haben, damit er „genau das nur anders“ noch einmal erleben möchte und weitere Bücher von dir zur Hand nimmt.
Deshalb ist die erste Szene so wichtig:
Wenn deine erste Szene mit Blut und Splatter und eklig beginnt, dann erwartet dein Leser auch in der weiteren Geschichte Blut und Splatter und Ekelgefühle. Bekommt er stattdessen Rosen und Schmetterlinge und glückliche Beziehungen ist er was?
Genau: Enttäuscht, weil du dein Versprechen gebrochen hast.
Wenn die erste Szene mit einer Trennung und viel Tränen beginnt, dann erwartet er auch weiterhin tonnenweise Drama. Bekommt er stattdessen nur Friede, Freude, Eierkuchen => Enttäuschung.
Anmerkung: Natürlich spielt in diesem Zusammenhang auch das Cover eine bedeutende Rolle. Steht vorne „Thriller“ drauf und beginnt die erste Szene mit Blümchen und spielenden Kindern, kann der Leser sich denken, dass da „noch etwas kommt“. Trotzdem würde ich immer empfehlen, zumindest einen Hinweis darauf zu hinterlassen, was deinen Leser erwartet – schon für den Fall, dass ein Freund ihm die erste Seite unter die Nase hält und sagt „lies das!“, ohne, dass er bereits weiß, was ihn erwartet.
Ist das nicht langweilig?
Wahrscheinlich möchtest du deinen Leser schon im ersten Kapitel komplett von den Socken hauen und völlig überraschen. Das kann ich gut verstehen.
Wir haben ja schon über den ersten Satz gesprochen und wie wichtig es ist Spannung zu erzeugen. Das ist kein seltener Tipp und wahrscheinlich kommen viele „falsche Anfänge“ durch den Ausdruck „spannend/überaschend beginnen“ bzw. sie resultieren aus der Verwechslung von „Spannung“ mit „Action“.
Das ist nicht verwunderlich, denn es ist sehr einfach, mit „Action“ auch Spannung zu erzeugen. Aber nur weil gerade etwas passiert (der Protagonist baumelt an einem Kliff) ist es noch lange nicht spannend. Spannend wird eine gefährliche Szene erst, wenn der Leser den Charakter mag und etwas auf dem Spiel steht, das ihm wichtig ist. Oder aber, wenn Fragen aufgeworfen werden.
Nell blickte durch die Löcher im Maschendraht und betrachtete das ehemals zweistöckige Gebäude.
Staubgrauer Backstein und Stuckreste bröckelten langsam von der maroden Fassade des alten Herrenhauses. Es war im Stil der Jahrhundertwende gebaut, hatte Erker, einen kleinen Turm und Schnörkel schmückten die hohen Fenster.
Das ist der Anfang einer meiner Geschichten (99 Gummipunkte, wenn du weißt welche). Es gibt wenig „Action“. Die Protagonistin steht im Augenblick nur still da und schaut. Aber es werden Fragen aufgeworfen (es bleiben längst nicht die einzigen), durch die Spannung entsteht. Was macht sie hier? Warum ist das Haus verfallen? Weshalb steht sie beobachtend am Maschendrahtzaun?
Und (ganz wichtig): Der Anfang passt zur Geschichte. Es ist nämlich kein actionreicher SciFi-Roman und auch keine Elfenschlachten-Fantasy-Geschichte. Das kannst du, mit ziemlicher Sicherheit, nach diesen wenigen Sätzen schon erkennen 🙂
Die Stimmung, die ich in der restlichen Szene erzeuge, ist sonnig, ein wenig geheimnisvoll und nachdenklich, genau wie der Rest der Geschichte.
Ich hätte auch anders anfangen können.
Blut. Nell starrte auf ihren Finger. Die Tonscherbe hatte sich tief in ihr Fleisch gebohrt. Jetzt lag das zerbrochene Ding einsam in einer Ecke des Dachgartens und frisches Rot glitzerte an seiner gesplitterten Kante in der Nachmittagssonne.
Wesentlich dramatischer als der tatsächliche Anfang. Anschließend könnte Nell bei dem Versuch ihre Wunde zu versorgen durch das alte Gemäuer stolpern und dabei die Geräusche hören, die sie auch in der eigentlichen Szene stutzen lassen. Ein durchaus valider Anfang und passend zur restlichen Handlung der Szene. Allerdings würde dieser Anfang eine völlig andere Stimmung erzeugen, die nicht zur folgenden Geschichte passt (in der ihre Verletzung keine Rolle mehr spielt) und er würde ein völlig falsches Lesegefühl versprechen.
Ich möchte aber unter keinen Umständen, dass der Leser am Ende der Geschichte enttäuscht denkt „Ich hab eine völlig andere Geschichte erwartet.“ Nein, er soll aus vollem Herzen schreien: „Nochmal!“ 🙂
Deshalb hab ich mich für den actionärmeren aber stimmungsvoll passenderen Anfang entschieden.
Wie du deinen Leser trotzdem überraschst:
Das Tolle ist: Du kannst deinen Leser überraschen und trotzdem das Versprechen der ersten Szene erfüllen.
Sagen wir, dein Leser erwartet eine herzergreifend schöne Liebesgeschichte mit viel Tiefgang. Lass ihm ein bisschen Zeit, sich in der ersten Szene wohlzufühlen, bevor du das eigentliche Problem auftauchen lässt, das die ganze Geschichte ins Rollen bringt und dann überraschst du ihn.
Nicht dadurch, dass du Zombies auftauchen lässt und alles einreißt, was du gerade so schön aufgebaut hast, sondern, indem du innovativ bist und nicht „das Gegenteil“ geschehen lässt, von dem was er erwartet. Sondern, indem du etwas „noch viel cooleres“ passieren lässt, als er erwartet.
Beispiel/Ausgangssituation:
Sie stolpert ihm in die Arme.
Was der Leser (wahrscheinlich) erwartet:
Er fängt sie auf. Aber er ist ja der Vollidiot, der sie eben noch gefeuert hat, also keift sie herum und kann ihn ganz und gar nicht leiden, obwohl er ja sooo sexy ist.
Was du dem Leser gibst?
a) Sie küsst ihn einfach (Hey, er ist sexy und sch*** auf die Kündigung, der Job war sowieso langweilig und es gibt noch andere da draußen).
b) Sie serviert ihm eiskalt eine Vorladung (vielleicht wegen der Kündigung?).
c) Sie schafft es, ihm geschickt auszuweichen, tippt sich lässig an die Stirn und verschwindet cool in der Menge.
Damit überraschst du deinen Leser, aber innerhalb der versprochenen Grundstimmung. Damit baust du Vertrauen auf und gewinnst einen glücklichen Leser. Einen, der auch das nächste Buch von dir gerne wieder zur Hand nimmt und das übernächste und das überübernächste. Weil er dir vertraut. 8)
Das Ende
Tja und jetzt zum eigentlich wichtigsten Punkt: Natürlich weiß der Leser in der ersten Szene noch nicht, ob du ihn mit der Stimmung veräppelst. Aber spätestens am Ende der Geschichte wird der Leser wissen, ob du vertrauenswürdig bist. Und genau daran wird er (vielleicht sogar nur unbewusst) denken, wenn er entscheidet, ob er noch eine Geschichte von dir liest — oder eben nicht.
Falls du sein Vertrauen enttäuscht hast, nun, dann stehen deine Chancen schlecht. Aber wenn du dein Versprechen gehalten hast, er bekam, was er nach der ersten Szene erwartet hat (gerne mit überraschenden Wendungen, solange sie zum Lesegefühl passen), dann wird er dir sein Vertrauen höchstwahrscheinlich auch für eine weitere Geschichte schenken.
Und das ist es, wonach wohl jeder Autor strebt 🙂
Du bist dran:
Und jetzt bist du an der Reihe, finde eine Möglichkeit, deinem Leser Lust auf das Lesegefühl deiner Geschichte zu machen und ihn zu überraschen, ohne sein Vertrauen zu brechen.
Mein Beispiel zur möglichen „Überraschung“ spielt im Genre „Liebesromane“. Schreib mir in die Kommentare doch ein Beispiel für eine Überraschung in deinem Genre ♥
Laura Feraris meint
Toller Artikel, den ich gerade sehr gut gebrauchen kann, denn der Anfang meiner Geschichte gefällt mir noch nicht so richtig.
Den Teil mit „dem Leser etwa noch besseres geben“ habe ich tatsächlich schon unbewusst umgesetzt 😉
Ich werde meinen Anfang mal ein wenig überarbeiten und schauen, was dabei raus kommt.
Liebe Grüße!
Laura
Alexander meint
Ein sehr interessanter Artikel, der sogar Lust auf mehr macht. Zu gerne würde ich jetzt mehr zu diesem Thema lesen, was wohl heißt, dass Du hier auch alles richtig gemacht hast. ^_^
Clerell meint
Danke,
dieser Artikel war genau, was ich brauchte und gesucht habe. Es ist so einleuchtend, was du schreibst, dass ich mich frage, warum ich eigentlich nicht selbst darauf gekommen bin 😀