Über wen schreibst du eigentlich?
Ich habe vorige Woche in einer Kiste endlich den Großteil meiner Schreibratgeber wiedergefunden. Dabei habe ich mir das Buch „Beginnings Middles and Ends“ herausgefischt und mal wieder angefangen darin zu schmökern. Ich musste erneut feststellen, wie genial es ist 🙂
Hier möchte ich dir zeigen, was mich an den Ausführungen zum Viewpoint am meisten inspiriert und dir vielleicht — wie mir — die Augen öffnen wird.
Aber von vorne.
Es gibt folgende Erzählertypen:
- den auktorialen Erzähler oder allwissenden Erzähler.
- den personalen Erzähler, der aus der Perspektive einer Person, jedoch „außerhalb“ von ihr, in der Er-Form schreibt.
- den personalen Erzähler in der Ich-Form.
Der allwissende Erzähler wirkt zwar wie „das Werkzeug der Wahl„, er ist aber auch – insbesondere für Anfänger – schwierig umzusetzen. Denn es ist viel zu leicht durcheinanderzukommen bei der Überlegung, „wer weiß was?“. Außerdem kann es dem Leser durch „Reizüberflutung“ sehr schwerfallen, sich mit den einzelnen Charakteren zu identifizieren.
Deshalb möchte ich mich im Folgenden mit dem personalen Erzähler beschäftigen. Dabei ist es hier unerheblich, ob in der er- oder der Ich-Form geschrieben wird.
Identifikation durch „nur“ einen Viewpoint
„Viewpoint“ ist das englische Wort für Sichtweise. Das heißt, es beschreibt, aus wessen Sicht deine Geschichte geschrieben wird, unabhängig vom Erzählertyp.
Ein großer Vorteil des personalen Erzähltyps ist, dass der Leser direkt in die Gedanken des erzählenden Charakters hineinsieht. Als Nachteil gilt, dass er eben nicht in die Gedanken der anderen Personen schauen kann.
Zum Ausgleich ist es möglich, eine Geschichte aus mehreren Viewpoints oder Sichtweisen zu schreiben.
Entscheidest du dich strikt für nur eine Sichtweise (was ich für den Rest des Artikels annehme), hast du den Vorteil, dass es für deinen Leser noch leichter ist, sich mit dem Charakter zu identifizieren. Schon alleine deshalb, weil er zu jedem Zeitpunkt auf demselben Stand ist, wie der Erzählcharakter. Das macht auch dir das Leben sehr viel einfacher.
Es bringt aber zur gleichen Zeit seine eigenen Probleme mit sich.
Einschränkungen bei „nur“ einer Sichtweise
Die Sichtweise der aktuellen Szene beschränkt dich darin, was du deinem Leser mitteilen darfst.
Ein Beispiel:
– Petra ist der Hauptcharakter; es geht um ihre Entwicklung.
– Ben ist seit zwei Monaten ihr Freund.
– Katja ist seit Ewigkeiten Petras beste Freundin, hat sich aber in Ben verliebt.
– Katja verabredet sich mit Ben und küsst ihn.
– Ben stößt Katja weg — sie ist zutiefst verletzt.
– Katja trifft Petra zuerst und erzählt ihr, dass Ben sich an sie heranmachen wollte.
Wenn Du aus der Sicht von Petra schreibst, wird dein Leser Katja höchstwahrscheinlich glauben. Ganz einfach deshalb, weil Petra ihrer besten Freundin mehr Vertrauen entgegenbringen wird, als ihrem neuen Freund. Vor allem, wenn es um „so etwas“ geht.
Falls du deinem Leser also die Möglichkeit geben möchtest „zu ahnen„, dass Katja lügt, musst du das anders arrangieren. D.h. die Sichtweise, die du für deine Geschichte wählst, beschränkt dich in dem, was du deinem Leser mitteilen kannst.
Du kannst in unserem Beispiel auch extra Petras Perspektive wählen, gerade damit der Leser sich auf Katjas Seite stellt. So ist er am Ende — genau wie Petra — ehrlich überrascht, wenn sich Bens Unschuld herausstellt.
Wie dem auch sei, jede Sichtweise bietet ihre eigenen Grenzen. Das solltest du bei der Wahl deines Viewpoint unbedingt beachten.
Protagonist und Sichtweise müssen nicht übereinstimmen
Über diesen Punkt habe ich zum ersten Mal durch das oben erwähnte Buch „Beginnings, Middles and Ends“ nachgedacht.
Per Definition ist der Protagonist der Charakter, dessen Geschichte geschrieben wird. Er ist der wichtigste Charakter und er ist derjenige, der die größte Entwicklung durchläuft. Ohne ihn gäbe es keine Geschichte. In unserem Beispiel wäre das Petra.
Viele Geschichten werden aus der Sichtweise des Protagonisten geschrieben. In unserem Beispiel oben ist das der Fall. Das ist aber nicht zwingend notwendig. Obwohl es um Petras Entwicklung vom Mauerblümchen zur selbstbewussten Frau geht, könntest du die Geschichte aus der Sicht von Katja oder Ben erzählen. Das kann schwierig sein, weil du wieder den Einschränkungen der jeweiligen Sichtweise unterliegst und so deinem Leser niemals echten Einblick in Petras Gedanken geben kannst.
Willst du unter allen Umständen klar machen, dass Katja „die Übeltäterin“ ist? Dann könntest du unser Beispiel aus Bens Sicht schreiben — vorausgesetzt er schafft es, trotzdem noch oft genug in Petras Nähe zu sein, um ihre Geschichte zu erzählen. Vielleicht sind sie ja Arbeitskollegen oder leben in einer WG?
Oder willst du, dass der Leser begreift, dass Katja gute Gründe für ihr handeln hat? Dann wäre ihre Sichtweise als beste Freundin vielleicht die beste Wahl für dich.
Es gibt auch Geschichten, bei denen es fast unumgänglich ist, aus einer anderen Sichtweise als der des Protagonisten zu berichten.
Um ein etwas bekannteres Beispiel zu nehmen. Man kann argumentieren, dass bei „Seelen“ von Stephenie Meyer, „Melanie“ der eigentliche Protagonist der Geschichte ist. Trotzdem wird die Geschichte aus der Perspektive von „Wanderer“ erzählt. Wahrscheinlich hauptsächlich deshalb, weil ihr Standpunkt der weitaus fremdartigere ist. Melanie können wir nachempfinden, weil sie ein Mensch ist. Aber Wanderer ist definitiv das interessantere Sichtfenster.
Wer weiß was?
Diese Verlagerung des Fokus — eben nicht aus der Perspektive des Protagonisten zu erzählen — kann ein sehr mächtiges Werkzeug sein. Insbesondere dann, wenn der Protagonist während der Geschichte stirbt, die Geschichte aber noch nicht „zu Ende“ ist.
Oder wenn der Protagonist schon „zu viel weiß“, sodass die Geschichte aus seiner Sicht langweilig wäre.
Mini-Statusbericht
Und jetzt endlich zu meiner Erkenntnis: Es hat ziemlich lange gebraucht, es zu akzeptieren, aber in meinem aktuellen Projekt ist genau das der Fall: Der „Viewpoint-Character“ (Sichtweisen-Charakter) ist nicht der Protagonist. Egal, wie sehr ich mir das wünsche ^^;
Was ist mit dir?
Wird deine Geschichte aus der Sichtweise deines Protagonisten erzählt? Was würde passieren, wenn du die Sichtweise änderst? Würde die Geschichte interessanter oder langweiliger? Welchen Ansatz findest du spannender? Welche Geschichten kennst du, die nicht aus der Sicht des Protagonisten erzählt werden?
Peter Nathschläger meint
Aber im Grunde genommen gibts ja mehr, oder? Der unentschlossene Erzähler beispielsweise, der abwechselnd innerhalb der Geschichte ist und außerhalb. Der unzuverlässige Erzähler, dessen Gewichtungen der Ereignisse ebenso Spannung aufbauen kann. Der Ich-Erzähler, der sich an eine Person im Roman wendet und zum Du wechselt; damit kann er sich selbst oder einen anderen ansprechen.
Mario Vargas Llosa dröselte all diese Möglichkeiten serh schön auf: Briefe an einen jungen Schriftsteller :-9
lg
Peter
Jacky meint
Mich hat hauptsächlich der Punkt fasziniert, dass Protagonist und Perspektive nicht übereinstimmen müssen. Das war mir aber zu wenig, deshalb habe ich versucht es etwas detaillierter zu beleuchten.
Das ist aber längst nicht alles. Hier hat Alcatraz die Möglichkeiten noch einmal ziemlich detailliert auseinander gedröselt (mitsamt der zugehörigen Fachausdrücken 😎 )
lg
Jacky 😉
PS: Meinst du dieses Buch von Llosa?
Scarlett meint
Ich hab dazu eine Frage. Ist es schlimm, wenn man mehrere Viewpoints hat? Weil egal wie ich es drehe und wende, einer allein reicht mir nicht. Sonst wird die Story zu eindimensional. Ich habe den Menschen auf seiner Reise in die Märchenwelt und die Fee in Ausbildung, die an sich selbst wächst.
Jacky meint
Im Gegenteil, mehrere Sichtweisen sind durchaus üblich 😉