Wenn du deine erste Szene geschrieben hast, dann denkst du wahrscheinlich, dass sie a) super-mega-monster-genial ist oder b) der größte Mist seit Menschengedenken.
Egal was deine Meinung ist, du hast auf jeden Fall unrecht. Denn a) du wirst diese Szene auf jeden Fall noch einmal umschreiben und b) du wirst die Szene auf jeden Fall noch einmal umschreiben. Warum das so ist und was das damit zu tun hat, dass „schlecht schreiben“ erlaubt ist? Dafür muss ich ein bisschen ausholen.
Mein Blogbeitrag „Schlecht schreiben lernen“ ist wohl einer der Artikel, die ich am häufigsten verlinke.
Warum?
Weil er dabei hilft, überhaupt anzufangen, deine Geschichte aufzuschreiben.
Denn dieses Ding, dieses Buch, das du schreiben möchtest, das wirkt am Anfang so einschüchternd, riesig und unbezwingbar wie der Mount Everest, wenn du (nur mit ein Paar Turnschuhen und einer 0,5-Liter-Flasche Bonaqua bewaffnet) ganz unten davor stehst — nackt.
Schließlich willst du eine geniale Geschichte erzählen, mit spannenden Plott-Twists, echten Charakteren, und mitreißenden Formulierungen. Da ist es doch viel einfacher, die Bonaqua-Flasche gegen ein Paar Shorts einzutauschen und wieder nach Hause zu laufen.
Aber wenn du die Erlaubnis hast „schlecht zu schreiben“, dann wachsen dir plötzlich Flügel, denn dann ist alles erlaubt.
Natürlich hilft es, wenn du vorher plottest oder wenigstens planst, wenn du dir über deine Charaktere Gedanken machst, ihre Vergangenheit kennst, die richtigen Werkzeuge benutzt und ein bisschen über das Handwerk im Allgemeinen weißt. Aber irgendwann musst du eben einfach anfangen. Denn Fakt ist, was auch immer du da produzierst, es wird am Ende überarbeitet werden. Ganz egal ob du Ulla Unbekannt heißt oder Stephen King.
Und das liegt an einer ganz simplen Tatsache:
Du weißt nicht, was du nicht weißt
Wenn du mit deiner Geschichte anfängst, dann hast du (egal wie viel du geplottet hast), nur einen groben Plan von dem, was du schreiben möchtest. Einfach, weil du es noch nicht geschrieben hast.
Ja, sicher, du weißt, dass Ingeborg und Christoph sich im zweiten Kapitel streiten werden. Aber du hast noch keine Ahnung, dass sie ihn als „Pupsi“ beschimpfen wird und er daraufhin einen Lachanfall bekommt, bevor der Streit eine abrupte Wendung nimmt und sie ihn verlässt.
Du wusstest (wenn du geplottet hast), dass sie streiten, du wusstest, dass sie ihn verlässt, aber du konntest ihre Wortwahl im Detail überhaupt nicht kennen.
Diese Ungewissheit ist auch der Grund, weshalb der Übergang sich so schwierig gestalten kann. Du kannst erst wirklich wissen, was passiert, wenn du es hingeschrieben hast.
Das Ende verändert sich
Wenn du dann in Kapitel 35 ankommst und die beiden sich versöhnen sollen, hast du durch die spezifische Wortwahl aus Kapitel 2 plötzlich einen Aufhänger, durch den ihre Versöhnung wesentlich eleganter passieren kann.
Er greift die „Beschimpfung“ wieder auf „Du denkst also immer noch, ich bin ein Pupsi?“ Weil er damals schon lachen musste, ist jetzt (nach ihrem langen, gemeinsamen Weg) ein Lächeln von beiden Seiten möglich. Die eigentlich geplante Erwähnung der kürzlich verstorbenen Mutter (was die Stimmung sofort runtergezogen aber die Versöhnung erst ermöglicht hätte) wird unnötig. Und schwupps bist du mitten in einem Kuss, der (durch den bedrückenden Umweg über die Mutter) eigentlich erst im nächsten Kapitel hätte kommen können.
Das heißt, durch die Fakten, die du beim Schreiben der ersten Kapitel geschaffen hast, verändert sich die geplante Handlung und wird noch dazu wesentlich organischer. Ich denke, genau solche Veränderungen meinen Autoren auch, wenn sie sagen, dass ihre Figuren ein Eigenleben entwickeln.
Die Geschichte wächst
„Pupsi“ wird nicht der einzige tiefere Einblick bleiben, den du im Laufe des Schreibens in deine Charaktere und Geschichte erhältst. Es gibt unheimlich viele Kleinigkeiten, die für sich genommen keinen Einfluss auf die Geschichte haben. Aber jede einzelne davon ist ein weiterer winziger Baustein im Leben und Wirken deiner Charaktere und in ihrem Zusammenspiel verändern diese Kleinigkeiten die ganze Geschichte.
Der Anfang verändert sich
Als Christoph in Kapitel 12 von seiner schlimmen Jugend erzählt, fällt dir plötzlich ein, dass sein kleiner Bruder bei einem Badeunfall ertrunken sein könnte, was sein Motivationsproblem löst, wenn er in Kapitel 24 dem kleinen Mädchen helfen soll. „Sehr cool“, denkst du dir und schreibst weiter.
Aber dann fällt dir auf, wenn du diese Vergangenheit zulässt, würde Christoph im ersten Kapitel niemals den dummen Spruch übers Schwimmen-Lernen reißen. Das ist also neuer Stoff für dein XXX-File.
Du siehst, genauso, wie die Erkenntnisse aus den ersten Kapiteln deinen Plot nach hinten verändern, so verändern auch deine hinteren Kapitel das, was du am Anfang geschrieben hast.
Das ist mit „Schlecht schreiben“ gemeint
Denn, selbst wenn du vom technischen und stilistischen Standpunkt her ein absolut lupenreines erstes Kapitel geschrieben hättest, du müsstest es nachher doch wieder überarbeiten, weil du mit der Zeit immer tiefere Einblicke in deine Charaktere und deine Geschichte erhältst.
Und genau deshalb, wegen all der Kleinigkeiten, die du vorher noch nicht wissen kannst, ist der erste Entwurf immer Mist.
Jeder Autor tut es
Ich vage übrigens zu behaupten, dass es da keine Ausnahmen gibt. Kein Autor kennt den haargenauen Verlauf seiner Geschichte, bevor er anfängt. Sonst gäbe es keine Überarbeitungen mehr.
Und die supergeniale Wendung in deinem Lieblingsbuch (die du im zweiten Kapitel hättest ahnen können, wenn du gewusst hättest, auf was du achten musst)? Tja, die Chancen stehen gut, dass dem Autor dieser geniale Hinweis in Kapitel 2 nicht einfach so in den Schoß gefallen ist, sondern dass er ihn (vielleicht sogar nachträglich!) mit purer Absicht sehr geschickt eingebaut hat.
Das ist erlaubt! Das ist sogar cool!
Also …
Fang endlich an!
Mach dir am Anfang keinen zu großen Kopf über Formulierungen. Ja, gib dein Bestes. Ja, hör auf deinen Bauch. Aber lass dich auch nicht unterkriegen. Setz deinen „Kreativ-Hut“ auf und lass die Wörter fließen. Immer in dem Wissen, du kommst später sowieso hierher zurück. Und dann darf dein Kritiker nach Herzenslust wüten 🙂
Diskussion
Was hilft dir, um deinen ersten Entwurf aufs Papier zu bekommen? Hattest du schon mal ein „Pupsi-Erlebnis“? Und erwachen deine Charaktere zu eigenem Leben?
Hallo Jacky,
ein absolutes Ja. Jeder Beginn wird mindestens dreimal gelöscht bevor es passt.
Und ja, ich hatte keine Ahnung wo es hinführen wird. Doch ich bin stolz darauf, meinem
“ Buchbaby“ am 26.6. bei Amazon als E-Book auf die Lesewelt geholfen zu haben. Deine Seite ist sowas von klasse. Es wird mir bei Buch Nr. 2 garantiert helfen. Also bleibe ich dran, habe meinen Spaß und freue mich wenn ich fertig bin. Ich werde weiter an Deinen Schreibfersen kleben.
Ganz liebe Grüße
Angelika Herbstsommer
Hi Angelika,
freut mich sehr, dass es dir hier so gut gefällt. Dann wünsche ich dir jede Menge Erfolg und natürlich Spaß für Runde zwei 🙂
Liebe Grüße
Jacky
Super Beitrag!
Hallo Jacky
Ganz genau so ist es, merke es gerade wieder beim Schreiben des letzten Drittels meines aktuellen Romans. Vielen Dank für deinen Beitrag, der mich darin bestätigt, dass meine Art zu schreiben nicht vom anderen Stern ist.
Liebe Grüße,
Andrea
Meine Charaktere sind quicklebendig. Sie neigen immer dazu, mich mit ungeahnten Wendungen wahlweise zu überraschen oder zu ärgern – dann sitze ich nämlich da und kann zusehen, wie ich sie aus der Situation wieder rausschreibe.. aber genau das ist es, was mir am meisten Spaß macht – einfach anfangen und sehen, wohin die Reise geht 🙂
Hallo Jacqueline,
ich stimmte dir vollkommen zu. Ich finde, dass gerade die Tatsache, dass nicht alles kommt wie geplant, macht das Schreiben überhaupt interessant. Manchmal kann ich mich nicht dazu überwinden, zu schreiben, weil ich in meinem Kopf zu lange geplant habe, was geschehen wird. Die Lösung ist dieselbe: Einfach hinsetzen und anfangen. Dann merkt man, dass sich alles anders entwickelt und dann wird es auch wieder interessant.
VG,
Carl Wilckens
Dankeschön
Hi Jacky,
ich bin so froh, das zu lesen! Mein erster Entwurf gefällt mir auch gar nicht! Aber gut zu sehen, dass es wohl vielen so geht und das auch ganz normal ist!
LG Daniela
Genau, das muss er nicht. Jetzt fängt die Arbeit erst richtig an. Du hast den Rohbau angelegt, jetzt kommt die Fassade und das Innendesign 😉
Viel Spaß dabei und liebe Grüße
Jacky
Hallo liebe Jacky,
erstmal ein großes Danke, dass du diesen Blog führst!
Seit kurzem bin ich wieder ans Lesen gekommen und nun auch wieder ans Schreiben, was mich alles etwas an meine Kindheit erinnert.
Ich bin jetzt 16 und hab grade erstmal 3 Collageblöcke, 10 Bleistifte und einen Ordner gekauft, damit ich nicht alles auf meinem PC hab.
Deine Seite hilft mir grade wirklich sehr, denn momentan ist in meinem Kopf eher ein gewaltiges Schlachtfeld als alles andere!
Ich lese deine Artikel immer, wenn ich gerade mal nicht weiter weiß oder eine Schreibblockade habe!
Und ich hoffe dass ich weiterhin immer wieder tolle Sachen von dir zu lesen bekomme!
LG
Alina
Liebe Jacky,
es ist immer wieder ermutigend, von anderen Autorinnen zu hören, dass sie sich zum „schlechten Schreiben“ bekennen. 🙂
Ich finde, eine Geschichte braucht zu Beginn ein gewisses Maß an Chaos, aus dem sich kreative Möglichkeiten ergeben. So wächst die Geschichte und wird noch besser, als sie zu Beginn geplant war.
Liebe Grüße von Effi
Hi Effi,
stimmt, am allerschönsten ist es, wenn sich „Kreise schließen“, das heißt, wenn plötzlich all die Dinge zusammenfinden und einen Sinn ergeben, die man vorher nur lose verflochten hat 🙂 ♥
liebe Grüße
Jacky
Hallo Jacky,
Danke für deine guten Schreibtipps, sie haben mir schon oft weiter geholfen. Ich habe nach einer langen Pause wieder angefangen zu schreiben. War total aus der Übung. Inzwischen läuft es besser. Besonders, seit ich mich dabei erwischt habe, dass ich unbewusst immer einen perfekten Text erwartet habe … Manchmal braucht man wirklich solche Anregungen, wie deine Schreibtipps, um sich selbst auf die Schliche zu kommen. 🙂
Liebe Grüße
Moni